Im Westen nichts Neues Chapter 6 德语

Es wird von einer Offensive gemunkelt. Wir gehen zwei Tage früher als
sonst an die Front. Auf dem Wege passieren wir eine zerschossene Schule. An
ihrer Längsseite aufgestapelt steht eine doppelte, hohe Mauer von ganz neuen,
hellen, unpolierten Särgen. Sie riechen noch nach Harz und Kiefern und Wald.
Es sind mindestens hundert.
»Da ist ja gut vorgesorgt zur Offensive«, sagt Müller erstaunt.
»Die sind für uns«, knurrt Detering.
»Quatsch nicht!«fährt Kat ihn an.
»Sei froh, wenn du noch einen Sarg kriegst«, grinst Tjaden,»dir verpassen
sie doch nur eine Zeltbahn für deine Schießbudenfigur, paß auf!«
Auch die andern machen Witze, unbehagliche Witze, was tollen wir sonst
tun. – Die Särge sind ja tatsächlich für uns. In solchen Dingen klappt die
Organisation.
Überall vorn brodelt es. In der ersten Nacht versuchen wir um uns zu
orientieren. Da es ziemlich still ist, können wir hören, wie die Transporte hinter
der gegnerischen Front rollen, unausgesetzt, bis in die Dämmerung hinein. Kat
sagt, daß sie nicht abrollen, sondern Truppen bringen, Truppen, Munition,
Geschütze.
Die englische Artillerie ist verstärkt, das hören wir sofort. Es stehen rechts
von der Ferme mindestens vier Batterien 20,5 mehr, und hinter dem
Pappelstumpf sind Minenwerfer eingebaut. Außerdem ist eine Anzahl dieser
kleinen französischen Biester mit Aufschlagzündern hinzugekommen. Wir sind
in gedrückter Stimmung. Zwei Stunden nachdem wir in den Unterständen
stecken, schießt uns die eigene Artillerie in den Graben. Es ist das drittemal in
vier Wochen.
Wenn es noch Zielfehler wären, würde keiner was sagen, aber es liegt
daran, daß die Rohre zu ausgeleiert sind; sie streuen bis in unsern Abschnitt, so
unsicher werden die Schüsse oft. In dieser Nacht haben wir dadurch zwei
Verwundete.
*
Die Front ist ein Käfig, in dem man nervös warten muß auf das, was
geschehen wird. Wir liegen unter dem Gitter der Granatenbogen und leben in der
Spannung des Ungewissen.Über uns schwebt der Zufall. Wenn ein Geschoß
kommt, kann ich mich ducken, das ist alles; wohin es schlägt, kann ich weder
genau wissen noch beeinflussen. Dieser Zufall ist es, der uns gleichgültig macht.
Ich saß vor einigen Monaten in einem Unterstand und spielte Skat; nach einer
Weile stand ich auf und ging, Bekannte in einem andern Unterstand zu
besuchen. Als ich zurückkam, war von dem ersten nichts mehr zu sehen, er war
von einem schweren Treffer zerstampft. Ich ging zum zweiten zurück und kam
gerade rechtzeitig, um zu helfen, ihn aufzugraben. Er war inzwischen verschüttet
worden.
Ebenso zufällig, wie ich getroffen werde, bleibe ich am Leben. Im
bombensicheren Unterstand kann ich zerquetscht werden, und auf freiem Felde
zehn Stunden Trommelfeuer unverletzt überstehen. Jeder Soldat bleibt nur durch
tausend Zufälle am Leben. Und jeder Soldat glaubt und vertraut dem Zufall.
*
Wir müssen auf unser Brot achtgeben. Die Ratten haben sich sehr vermehrt
in der letzten Zeit, seit die Gräben nicht mehr recht in Ordnung sind. Detering
behauptet, es wäre das sicherste Vorzeichen für dicke Luft.
Die Ratten hier sind besonders widerwärtig, weil sie so groß sind. Es ist die
Art, die man Leichenratten nennt. Sie haben scheußliche, bösartige, nackte
Gesichter, und es kann einem übel werden, wenn man ihre langen, kahlen
Schwänze sieht.
Sie scheinen recht hungrig zu sein. Bei fast allen haben sie das Brot
angefressen. Kropp hat es unter seinem Kopf fest in die Zeltbahn gewickelt,
doch er kann nicht schlafen, weil sie ihm über das Gesicht laufen, um
heranzugelangen. Detering wollte schlau sein; er hatte an der Decke einen
dünnen Draht befestigt und sein Brot darangehängt. Als er nachts seine
Taschenlampe anknipst, sieht er den Draht hin und her schwanken. Auf dem
Brot reitet eine fette Ratte. Schließlich machen wir ein Ende. Die Stücke Brot,
die von den Tieren benagt sind, schneiden wir sorgfältig aus; wegwerfen können
wir das Brot ja auf keinen Fall, weil wir morgen sonst nichts zu essen haben.
Die abgeschnittenen Scheiben legen wir in der Mitte auf dem Boden
zusammen. Jeder nimmt seinen Spaten heraus und legt sich schlagbereit hin.
Detering, Kropp und Kat halten ihre Taschenlampen bereit.
Nach wenigen Minuten hören wir das erste Schlurfen und Zerren. Es
verstärkt sich, nun sind es viele kleine Füße. Da blitzen die Taschenlampen auf,
und alles schlägt auf den schwarzen Haufen ein, der auseinanderzischt. Der
Erfolg ist gut. Wir schaufeln die Rattenteile über den Grabenrand und legen uns
wieder auf die Lauer. Noch einige Male gelingt uns der Schlag. Dann haben die
Tiere etwas gemerkt oder das Blut gerochen. Sie kommen nicht mehr. Trotzdem
ist der Brotrest auf dem Boden am nächsten Tage von ihnen weggeholt. Im
benachbarten Abschnitt haben sie zwei große Katzen und einen Hund überfallen,
totgebissen und angefressen.
*
Am nächsten Tage gibt es Edamer Käse. Jeder erhält fast einen Viertelkäse.
Das ist teilweise gut, denn Edamer schmeckt
– und es ist teilweise faul, denn für uns waren die dicken roten Bälle
bislang immer ein Anzeichen für schweren Schlamassel. Unsere Ahnung steigert
sich, als noch Schnaps ausgeteilt wird. Vorläufig trinken wir ihn; aber uns ist
nicht wohl zumute dabei. Tagsüber machen wir Wettschießen auf Ratten und
lungern umher. Die Patronen und Handgranatenvorräte werden reichlicher. Die
Bajonette revidieren wir selbst. Es gibt nämlich welche, die gleichzeitig auf der
stumpfen Seite als Säge eingerichtet sind. Wenn die drüben jemand damit
erwischen, wird er rettungslos abgemurkst. Im Nachbarabschnitt sind Leute von
uns wiedergefunden worden, denen mit diesen Sägeseitengewehren die Nasen
abgeschnitten und die Augen ausgestochen waren. Dann hatte man ihnen den
Mund und Nase mit Sägespänen gefüllt und sie so erstickt.
Einige Rekruten haben noch Seitengewehre ähnlicher Art; wir schaffen sie
weg und besorgen ihnen andere.
Das Seitengewehr hat allerdings an Bedeutung verloren. Zum Stürmen ist
es jetzt manchmal Mode, nur mit Handgranaten und Spaten vorzugehen. Der
geschärfte Spaten ist eine leichtere und vielseitigere Waffe, man kann ihn nicht
nur unter das Kinn stoßen, sondern vor allem damit schlagen, das hat größere
Wucht; besonders wenn man schräg zwischen Schulter und Hals trifft, spaltet
man leicht bis zur Brust durch. Das Seitengewehr bleibt beim Stich oft stecken,
man muß dann erst dem andern kräftig gegen den Bauch treten, um es
loszukriegen, und in der Zwischenzeit hat man selbst leicht eins weg. Dabei
bricht es noch außerdem manchmal ab.
Nachts wird Gas abgeblasen. Wir erwarten den Angriff und liegen mit den
Masken fertig, bereit, sie abzureißen, sowie der erste Schatten auftaucht.
Der Morgen graut, ohne daß etwas erfolgt. Nur immer dieses
nervenzerreibende Rollen drüben, Züge, Züge, Lastwagen, Lastwagen, was
konzentriert sich da nur? Unsere Artillerie funkt ständig hinüber, aber es hört
nicht auf, es hört nicht auf. – Wir haben müde Gesichter und sehen aneinander
vorbei.
»Es wird wie an der Somme, da hatten wir nachher sieben Tage und Nächte
Trommelfeuer«, sagt Kat düster. Er hat gar keinen Witz mehr, seit wir hier sind,
und das ist schlimm, denn Kat ist ein altes Frontschwein, das Witterung besitzt.
Nur Tjaden freut sich der guten Portionen und des Rums; er meint sogar, wir
würden genauso in Ruhe zurückkehren, es würde gar nichts passieren. Fast
scheint es so. Ein Tag nach dem andern geht vorüber. Ich sitze nachts im Loch
auf Horchposten. Über mir steigen die Raketen und Leuchtschirme auf und
nieder. Ich bin vorsichtig und gespannt, mein Herz klopft. Immer wieder liegt
mein Auge auf der Uhr mit dem Leuchtzifferblatt; der Zeiger will nicht weiter.
Der Schlaf hängt in meinen Augenlidern, ich bewege die Zehen in den Stiefeln,
um wachzubleiben. Nichts geschieht, bis ich abgelöst werde; – nur immer das
Rollen drüben. Wir werden allmählich ruhig und spielen ständig Skat und
Mauscheln. Vielleicht haben wir Glück.
Der Himmel hängt tagsüber voll Fesselballons. Es heißt, daß von drüben
jetzt auch hier Tanks eingesetzt werden sollen und Infanterieflieger beim
Angriff. Das interessiert uns aber weniger als das, was von den neuen
Flammenwerfern erzählt wird.
*
Mitten in der Nacht erwachen wir. Die Erde dröhnt. Schweres Feuer liegt
über uns. Wir drücken uns in die Ecken. Geschosse aller Kaliber können wir
unterscheiden. Jeder greift nach seinen Sachen und vergewissert sich alle
Augenblicke von neuem, daß sie da sind. Der Unterstand bebt, die Nacht ist ein
Brüllen und Blitzen. Wir sehen uns bei dem sekundenlangen Licht an und
schütteln mit bleichen Gesichtern und gepreßten Lippen die Köpfe. Jeder fühlt es
mit, wie die schweren Geschosse die Grabenbrüstung wegreißen, wie sie die
Böschung durchwühlen und die obersten Betonklötze zerfetzen. Wir merken den
dumpferen, rasenderen Schlag, der dem Prankenhieb eines fauchenden Raubtiers
gleicht, wenn der Schuß im Graben sitzt. Morgens sind einige Rekruten bereits
grün und kotzen. Sie sind noch zu unerfahren.
Langsam rieselt widerlich graues Licht in den Stollen und macht das
Blitzen der Einschläge fahler. Der Morgen ist da. Jetzt mischen sich
explodierende Minen in das Artilleriefeuer. Es ist das Wahnsinnigste an
Erschütterung, was es gibt. Wo sie niederfegen, ist ein Massengrab.
Die Ablösungen gehen hinaus, die Beobachter taumeln herein, mit Schmutz
beworfen, zitternd. Einer legt sich schweigend in die Ecke und ißt, der andere,
ein Ersatzreservist, schluchzt; er ist zweimal über die Brustwehr geflogen durch
den Luftdruck der Explosion, ohne sich etwas anderes zu holen als einen
Nervenschock.
Die Rekruten sehen zu ihm hin. So etwas steckt rasch an, wir müssen
aufpassen, schon fangen verschiedene Lippen an zu flattern. Gut ist, daß es Tag
wird; vielleicht erfolgt der Angriff vormittags.
Das Feuer schwächt nicht ab. Es liegt auch hinter uns. So weit man sehen
kann, spritzen Dreck-und Eisenfontänen. Ein sehr breiter Gürtel wird bestrichen.
Der Angriff erfolgt nicht, aber die Einschläge dauern an. Wir werden langsam
taub. Es spricht kaum noch jemand.
Man kann sich auch nicht verstehen.
Unser Graben ist fast fort. An vielen Stellen reicht er nur noch einen halben
Meter hoch, er ist durchbrochen von Löchern, Trichtern und Erdbergen. Direkt
vor unserm Stollen platzt eine Granate. Sofort ist es dunkel. Wir sind
zugeschüttet und müssen uns ausgraben. Nach einer Stunde ist der Eingang
wieder frei, und wir sind etwas gefaßter, weil wir Arbeit hatten.
Unser Kompanieführer klettert herein und berichtet, daß zwei Unterstände
weg sind. Die Rekruten beruhigen sich, als sie ihn sehen. Er sagt, daß heute
abend versucht werden soll, Essen heranzubringen.
Das klingt tröstlich. Keiner hat daran gedacht, außer Tjaden. Nun rückt
etwas wieder von draußen näher; – wenn Essen geholt werden soll, kann es ja
nicht so schlimm sein, denken die Rekruten. Wir stören sie nicht, wir wissen,
daß Essen ebenso wichtig wie Munition ist und nur deshalb herangeschafft
werden muß.
Aber es mißlingt. Eine zweite Staffel geht los. Auch sie kehrt um.
Schließlich ist Kat dabei, und selbst er erscheint unverrichtetersache wieder.
Niemand kommt durch, kein Hundeschwanz ist schmal genug für dieses Feuer.
Wir ziehen unsere Schmachtriemen enger und kauen jeden Happen dreimal
so lange. Doch es reicht trotzdem nicht aus; wir haben verfluchten Kohldampf.
Ich bewahre mir eine Kante auf; das Weiche esse ich heraus, die Kante bleibt im
Brotbeutel; ab und zu knabbere ich mal daran.
*
Die Nacht ist unerträglich. Wir können nicht schlafen, wir stieren vor uns
hin und duseln. Tjaden bedauert, daß wir unsere angefressenen Brotstücke für
die Ratten vergeudet haben. Wir hätten sie ruhig aufheben sollen. Jeder würde
sie jetzt essen. Wasser fehlt uns auch, aber noch nicht so sehr.
Gegen Morgen, als es noch dunkel ist, entsteht Aufregung.
Durch den Eingang stürzt ein Schwärm flüchtender Ratten und jagt die
Wände hinauf. Die Taschenlampen beleuchten die Verwirrung. Alle schreien
und fluchen und schlagen zu. Es ist der Ausbruch der Wut und der Verzweiflung
vieler Stunden, der sich entlädt. Die Gesichter sind verzerrt, die Arme schlagen,
die Tiere quietschen, es fällt schwer, daß wir aufhören, fast hätte einer den
anderen angefallen. Der Ausbruch hat uns erschöpft. Wir liegen und warten
wieder. Es ist ein Wunder, daß unser Unterstand noch keine Verluste hat. Er ist
einer der wenigen tiefen Stollen, die es jetzt noch gibt.
Ein Unteroffizier kriecht herein; der hat ein Brot bei sich. Drei Leuten ist es
doch geglückt, nachts durchzukommen und etwas Proviant zu holen. Sie haben
erzählt, daß das Feuer in unverminderter Stärke bis zu den Artillerieständen läge.
Es sei ein Rätsel, wo die drüben so viele Geschütze hernähmen.
Wir müssen warten, warten. Mittags passiert das, womit ich schon rechnete.
Einer der Rekruten hat einen Anfall. Ich habe ihn schon lange beobachtet, wie er
ruhelos die Zähne bewegte und die Fäuste ballte und schloß. Diese gehetzten,
herausspringenden Augen kennen wir zur Genüge. In den letzten Stunden ist er
nur scheinbar stiller geworden. Er ist in sich zusammengesunken wie ein
morscher Baum.
Jetzt steht er auf, unauffällig kriecht er durch den Raum, verweilt einen
Augenblick und rutscht dann dem Ausgang zu. Ich lege mich herum und
frage:»Wo willst du hin?«
»Ich bin gleich wieder da«, sagt er und will an mir vorbei.
»Warte doch noch, das Feuer läßt schon nach.«
Er horcht auf, und das Auge wird einen Moment klar. Dann hat es wieder
den trüben Glanz wie bei einem tollwütigen Hund, er schweigt und drängt mich
fort.»Eine Minute, Kamerad!«rufe ich. Kat wird aufmerksam. Gerade als der
Rekrut mich fortstößt, packt er zu, und wir halten ihn fest.
Sofort beginnt er zu toben:»Laßt mich los, laßt mich ‘raus, ich will hier
‘raus!«
Er hört auf nichts und schlägt um sich, der Mund ist naß und sprüht Worte,
halbverschluckte, sinnlose Worte. Es ist ein Anfall von Unterstandsangst, er hat
das Gefühl, hier zu ersticken, und kennt nur den einen Trieb: hinauszugelangen.
Wenn man ihn laufen ließe, würde er ohne Deckung irgendwohin rennen. Er ist
nicht der erste.
Da er sehr wild ist und die Augen sich schon verdrehen, so hilft es nichts,
wir müssen ihn verprügeln, damit er vernünftig wird. Wir tun es schnell und
erbarmungslos und erreichen, daß er vorläufig wieder ruhig sitzt. Die andern
sind bleich bei der Geschichte geworden; hoffentlich schreckt es sie ab. Dieses
Trommelfeuer ist zuviel für die armen Kerle; sie sind vom Feldrekrutendepot
gleich in einen Schlamassel geraten, der selbst einem alten Mann graue Haare
machen könnte.
Die stickige Luft fällt uns nach diesem Vorgang noch mehr auf die Nerven.
Wir sitzen wie in unserm Grabe und warten nur darauf, daß wir zugeschüttet
werden. Plötzlich heult und blitzt es ungeheuer, der Unterstand kracht in allen
Fugen unter einem Treffer, glücklicherweise einem leichten, dem die
Betonklötze standgehalten haben. Es klirrt metallisch und fürchterlich, die
Wände wackeln, Gewehre, Helme, Erde, Dreck und Staub fliegen. Schwefeliger
Qualm dringt ein. Wenn wir statt in dem festen Unterstand in einem der leichten
Dinger säßen, wie sie neuerdings gebaut werden, lebte jetzt keiner mehr.
Die Wirkung ist aber auch so schlimm genug. Der Rekrut von vorhin tobt
schon wieder, und zwei andere schließen sich an. Einer reißt aus und läuft weg.
Wir haben Mühe mit den beiden andern. Ich stürze hinter dem Flüchtenden her
und überlege, ob ich ihm in die Beine schießen soll; – da pfeift es heran, ich
werfe mich hin, und als ich aufstehe, ist die Grabenwand mit heißen Splittern,
Fleischfetzen und Uniformlappen bepflastert. Ich klettere zurück.
Der erste scheint wirklich verrückt geworden zu sein. Er rennt mit dem
Kopf wie ein Bock gegen die Wand, wenn man ihn losläßt. Wir werden nachts
versuchen müssen, ihn nach hinten zu bringen. Vorläufig binden wir ihn so fest,
daß man ihn beim Angriff sofort wieder losmachen kann.
Kat schlägt vor, Skat zu spielen; – was soll man tun, vielleicht ist es leichter
dann. Aber es wird nichts daraus, wir lauschen auf jeden Einschlag, der näher
ist, und verzählen uns bei den Stichen oder bedienen nicht die Farbe. Wir
müssen es lassen. Wie in einem gewaltig dröhnenden Kessel sitzen wir, auf den
von allen Seiten losgeschlagen wird.
Noch eine Nacht. Wir sind jetzt stumpf vor Spannung. Es ist eine tödliche
Spannung, die wie ein schartiges Messer unser Rückenmark entlang kratzt. Die
Beine wollen nicht mehr, die Hände zittern, der Körper ist eine dünne Haut über
mühsam unterdrücktem Wahnsinn, über einem gleich hemmungslos
ausbrechendem Gebrüll ohne Ende. Wir haben kein Fleisch und keine Muskeln
mehr, wir können uns nicht mehr ansehen, aus Furcht vor etwas
Unberechenbarem. So pressen wir die Lippen auf einander – es wird
vorübergehen – es wird vorübergehen-vielleicht kommen wir durch.
*
Mit einem Male hören die nahen Einschläge auf. Das Feuer dauert an, aber
es ist zurückverlegt, unser Graben ist frei. Wir greifen nach den Handgranaten,
werfen sie vor den Unterstand und springen hinaus. Das Trommelfeuer hat
aufgehört, dafür liegt hinter uns ein schweres Sperrfeuer.
Der Angriff ist da.
Niemand würde glauben, daß in dieser zerwühlten Wüste noch Menschen
sein könnten; aber jetzt tauchen überall aus dem Graben die Stahlhelme auf, und
fünfzig Meter von uns entfernt ist schon ein Maschinengewehr in Stellung
gebracht, das gleich losbellt.
Die Drahtverhaue sind zerfetzt. Immerhin halten sie noch etwas auf. Wir
sehen die Stürmenden kommen. Unsere Artillerie funkt. Maschinengewehre
knarren, Gewehre knattern. Von drüben arbeiten sie sich heran. Haie und Kropp
beginnen mit den Handgranaten. Sie werfen, so rasch sie können, die Stiele
werden ihnen abgezogen zugereicht. Haie wirft sechzig Meter weit, Kropp
fünfzig, das ist ausprobiert und wichtig. Die von drüben können im Laufen nicht
viel eher etwas machen, als bis sie auf dreißig Meter heran sind.
Wir erkennen die verzerrten Gesichter, die flachen Helme, es sind
Franzosen. Sie erreichen die Reste des Drahtverhaus und haben schon sichtbare
Verluste. Eine ganze Reihe wird von dem Maschinengewehr neben uns
umgelegt; dann haben wir viele Ladehemmungen, und sie kommen näher. Ich
sehe einen von ihnen in einen spanischen Reiter stürzen, das Gesicht hoch
erhoben. Der Körper sackt zusammen, die Hände bleiben hängen, als wollte er
beten. Dann fällt der Körper ganz weg, und nur noch die abgeschossenen Hände
mit den Armstümpfen hängen im Draht.
Im Augenblick, als wir zurückgehen, heben sich vorn drei Gesichter vom
Boden. Unter einem der Helme ein dunkler Spitzbart und zwei Augen, die fest
auf mich gerichtet sind. Ich hebe die Hand, aber ich kann nicht werfen in diese
sonderbaren Augen, einen verrückten Moment lang rast die ganze Schlacht wie
ein Zirkus um mich und diese beiden Augen, die allein bewegungslos sind, dann
reckt sich drüben der Kopf auf, eine Hand, eine Bewegung, und meine
Handgranate fliegt hinüber, hinein.
Wir laufen zurück, reißen spanische Reiter in den Graben und lassen
abgezogene Handgranaten hinter uns fallen, die uns einen feurigen Rückzug
sichern. Von der nächsten Stellung aus feuern die Maschinengewehre.
Aus uns sind gefährliche Tiere geworden. Wir kämpfen nicht, wir
verteidigen uns vor der Vernichtung. Wir schleudern die Granaten nicht gegen
Menschen, was wissen wir im Augenblick davon, dort hetzt mit Händen und
Helmen der Tod hinter uns her, wir können ihm seit drei Tagen zum ersten Male
ins Gesicht sehen, wir können uns seit drei Tagen zum ersten Male wehren
gegen ihn, wir haben eine wahnsinnige Wut, wir liegen nicht mehr ohnmächtig
wartend auf dem Schafott, wir können zerstören und töten, um uns zu retten und
zu rächen.
Wir hocken hinter jeder Ecke, hinter jedem Stacheldrahtgestell und werfen
den Kommenden Bündel von Explosionen vor die Füße, ehe wir forthuschen.
Das Krachen der Handgranaten schießt kraftvoll in unsere Arme, in unsere
Beine, geduckt wie Katzen laufen wir, überschwemmt von dieser Welle, die uns
trägt, die uns grausam macht, zu Wegelagerern, zu Mördern, zu Teufeln
meinetwegen, dieser Welle, die unsere Kraft vervielfältigt in Angst und Wut und
Lebensgier, die uns Rettung sucht und erkämpft. Käme dein Vater mit denen
drüben, du würdest nicht zaudern, ihm die Granate gegen die Brust zu werfen!
Die vorderen Gräben werden aufgegeben. Sind es noch Gräben? Sie sind
zerschossen, vernichtet – es sind nur einzelne Grabenstücke, Löcher, verbunden
durch Laufgänge, Trichternester, nicht mehr. Aber die Verluste derer von drüben
häufen sich. Sie haben nicht mit so viel Widerstand gerechnet.
*
Es wird Mittag. Die Sonne brennt heiß, uns beißt der Schweiß in die Augen,
wir wischen ihn mit dem Ärmel weg, manchmal ist Blut dabei. Der erste etwas
besser erhaltene Graben taucht auf. Er ist besetzt und vorbereitet zum
Gegenstoß, er nimmt uns auf. Unsere Artillerie setzt mächtig ein und riegelt den
Vorstoß ab.
Die Linien hinter uns stocken. Sie können nicht vorwärts. Der Angriff wird
zerfetzt durch unsere Artillerie. Wir lauern. Das Feuer springt hundert Meter
weiter, und wir brechen wieder vor. Neben mir wird einem Gefreiten der Kopf
abgerissen. Er läuft noch einige Schritte, während das Blut ihm wie ein
Springbrunnen aus dem Halse schießt. Es kommt nicht ganz zum Handgemenge,
die andern müssen zurück. Wir erreichen unsere Grabenstücke wieder und gehen
darüber hinaus vor.
Oh, dieses Umwenden! Man hat die schützenden Reservestellungen
erreicht, man möchte hindurchkriechen, verschwinden; – und muß sich
umdrehen und wieder in das Grauen hinein. Wären wir keine Automaten in
diesem Augenblick, wir blieben liegen, erschöpft, willenlos. Aber wir werden
wieder mit vorwärts gezogen, willenlos und doch wahnsinnig wild und wütend,
wir wollen töten, denn das dort sind unsere Todfeinde jetzt, ihre Gewehre und
Granaten sind gegen uns gerichtet, vernichten wir sie nicht, dann vernichten sie
uns!
Die braune Erde, die zerrissene, zerborstene braune Erde, fettig unter den
Sonnenstrahlen schimmernd, ist der Hintergrund rastlos dumpfen
Automatentums, unser Keuchen ist das Abschnarren der Feder, die Lippen sind
trocken, der Kopf ist wüster als nach einer durchsoffenen Nacht – so taumeln wir
vorwärts, und in unsere durchsiebten, durchlöcherten Seelen bohrt sich quälend
eindringlich das Bild der braunen Erde mit der fettigen Sonne und den
zuckenden und toten Soldaten, die da liegen, als müßte es so sein, die nach
unsern Beinen greifen und schreien, während wir über sie hinwegspringen.
Wir haben alles Gefühl füreinander verloren, wir kennen uns kaum noch,
wenn das Bild des andern in unseren gejagten Blick fällt. Wir sind gefühllose
Tote, die durch einen Trick, einen gefährlichen Zauber noch laufen und töten
können.
Ein junger Franzose bleibt zurück, er wird erreicht, hebt die Hände, in einer
hat er noch den Revolver – man weiß nicht, will er schießen oder sich ergeben -,
ein Spatenschlag spaltet ihm das Gesicht. Ein zweiter sieht es und versucht,
weiterzuflüchten, ein Bajonett zischt ihm in den Rücken. Er springt hoch, und
die Arme ausgebreitet, den Mund schreiend weit offen, taumelt er davon, in
seinem Rücken schwankt das Bajonett. Ein dritter wirft das Gewehr weg, kauert
sich nieder, die Hände vor den Augen. Er bleibt zurück mit einigen andern
Gefangenen, um Verwundete fortzutragen.
Plötzlich geraten wir in der Verfolgung an die feindlichen Stellungen.
Wir sind so dicht hinter den weichenden Gegnern, daß es uns gelingt, fast
gleichzeitig mit ihnen anzulangen. Dadurch haben wir wenig Verluste. Ein
Maschinengewehr kläfft, wird aber durch eine Handgranate erledigt. Immerhin
haben die paar Sekunden für fünf Bauchschüsse bei uns ausgereicht. Kat schlägt
einem der unverwundet gebliebenen Maschinengewehrschützen mit dem Kolben
das Gesicht zu Brei. Die andern erstechen wir, ehe sie ihre Handgranaten heraus
haben. Dann saufen wir durstig das Kühlwasser aus.
Überall knacken Drahtzangen, poltern Bretter über die Verhaue, springen
wir durch die schmalen Zugänge in die Gräben. Haie stößt einem riesigen
Franzosen seinen Spaten in den Hals und wirft die erste Handgranate; wir
ducken uns einige Sekunden hinter einer Brustwehr, dann ist das gerade Stück
des Grabens vor uns leer. Schräg über die Ecke zischt der nächste Wurf und
schafft freie Bahn, im Vorbeilaufen fliegen geballte Ladungen in die
Unterstände, die Erde ruckt, es kracht, dampft und stöhnt, wir stolpern über
glitschige Fleischfetzen, über weiche Körper, ich falle in einen zerrissenen
Bauch, auf dem ein neues, sauberes Offizierskäppi liegt.
Das Gefecht stockt. Die Verbindung mit dem Feinde reißt ab. Da wir uns
hier nicht lange halten können, werden wir unter dem Schütze unserer Artillerie
zurückgenommen auf unsere Stellung. Kaum wissen wir es, als wir in größter
Eile noch in die nächsten Unterstände stürzen, um von Konserven an uns zu
reißen, was wir gerade sehen, vor allem die Büchsen mit Corned beef und
Butter, ehe wir türmen. Wir kommen gut zurück. Es erfolgt vorläufig kein
weiterer Angriff von drüben.Über eine Stunde liegen wir, keuchen und ruhen
uns aus, ehe jemand spricht. Wir sind so völlig ausgepumpt, daß wir trotz
unseres starken Hungers nicht an die Konserven denken. Erst allmählich werden
wir wieder so etwas wie Menschen.
Das Corned beef von drüben ist an der ganzen Front berühmt. Es ist
mitunter sogar der Hauptgrund zu einem überraschenden Vorstoß von unserer
Seite, denn unsere Ernährung ist im allgemeinen schlecht; wir haben ständig
Hunger.
Insgesamt haben wir fünf Büchsen geschnappt. Die Leute drüben werden ja
verpflegt, das ist eine Pracht gegen uns Hungerleider mit unserer
Rübenmarmelade, das Fleisch steht da nur so herum, man braucht bloß danach
zu greifen. Haie hat außerdem ein dünnes französisches Weißbrot erwischt und
hinter sein Koppel geschoben wie einen Spaten. An einer Ecke ist es ein bißchen
blutig, doch das läßt sich abschneiden.
Es ist ein Glück, daß wir jetzt gut zu essen haben; wir werden unsere Kräfte
noch brauchen. Sattessen ist ebenso wertvoll wie ein guter Unterstand; deshalb
sind wir so gierig danach, denn es kann uns das Leben retten.
Tjaden hat noch zwei Feldflaschen Kognak erbeutet. Wir lassen sie reihum
gehen.
*
Der Abendsegen beginnt. Die Nacht kommt, aus den Trichtern steigen
Nebel. Es sieht aus, als wären die Löcher von gespenstigen Geheimnissen erfüllt.
Der weiße Dunst kriecht angstvoll umher, ehe er wagt, über den Rand
hinwegzugleiten. Dann ziehen lange Streifen von Trichter zu Trichter.
Es ist kühl. Ich bin auf Posten und starre in die Dunkelheit. Mir ist schwach
zumute, wie immer nach einem Angriff, und deshalb wird es mir schwer, mit
meinen Gedanken allein zu sein. Es sind keine eigentlichen Gedanken; es sind
Erinnerungen, die mich in meiner Schwäche jetzt heimsuchen und mich
sonderbar stimmen.
Die Leuchtschirme gehen hoch – und ich sehe ein Bild, einen
Sommerabend, wo ich im Kreuzgang des Domes bin und auf hohe Rosenbüsche
schaue, die in der Mitte des kleinen Kreuzgartens blühen, in dem die Domherren
begraben werden. Rundum stehen die Steinbilder der Stationen des
Rosenkranzes. Niemand ist da; – eine große Stille hält dieses blühende Viereck
umfangen, die Sonne liegt warm auf den dicken grauen Steinen, ich lege meine
Hand darauf und fühle die Wärme. Über der rechten Ecke des Schieferdaches
strebt der grüne Domturm in das matte, weiche Blau des Abends. Zwischen den
beglänzten kleinen Säulen der umlaufenden Kreuzgänge ist das kühle Dunkel,
das nur Kirchen haben, und ich stehe dort und denke daran, daß ich mit zwanzig
Jahren die verwirrenden Dinge kennen werde, die von den Frauen kommen.
Das Bild ist bestürzend nahe, es rührt mich an, ehe es unter dem
Aufflammen der nächsten Leuchtkugel zergeht. Ich fasse mein Gewehr und
rücke es zurecht. Der Lauf ist feucht, ich lege meine Hand fest darum und
zerreibe die Feuchtigkeit mit den Fingern.
Zwischen den Wiesen hinter unserer Stadt erhob sich an einem Bach eine
Reihe von alten Pappeln. Sie waren weithin sichtbar, und obschon sie nur auf
einer Seite standen, hießen sie die Pappelallee. Schon als Kinder hatten wir eine
Vorliebe für sie, unerklärlich zogen sie uns an, ganze Tage verbrachten wir bei
ihnen und hörten ihrem leisen Rauschen zu. Wir saßen unter ihnen am Ufer des
Baches und ließen die Füße in die hellen, eiligen Wellen hängen. Der reine Duft
des Wassers und die Melodie des Windes in den Pappeln beherrschten unsere
Phantasie. Wir liebten sie sehr, und das Bild dieser Tage läßt mir jetzt noch das
Herz klopfen, ehe es wieder geht.
Es ist seltsam, daß alle Erinnerungen, die kommen, zwei Eigenschaften
haben. Sie sind immer voll Stille, das ist das Stärkste an ihnen, und selbst dann,
wenn sie es nicht in dem Maße in Wahrheit waren, wirken sie so. Sie sind
lautlose Erscheinungen, die zu mir sprechen mit Blicken und Gebärden, wortlos
und schweigend, – und ihr Schweigen ist das Erschütternde, das mich zwingt,
meinen Ärmel anzufassen und mein Gewehr, um mich nicht vergehen zu lassen
in dieser Auflösung und Lockung, in der mein Körper sich ausbreiten und sanft
zerfließen möchte zu den stillen Mächten hinter den Dingen.
Sie sind so still, weil das für uns so unbegreiflich ist. An der Front gibt es
keine Stille, und der Bann der Front reicht so weit, daß wir nie außerhalb von ihr
sind. Auch in den zurückgelegenen Depots und Ruhequartieren bleibt das
Summen und das gedämpfte Poltern des Feuers stets in unseren Ohren. Wir sind
nie so weit fort, daß wir es nicht mehr hören. In diesen Tagen aber war es
unerträglich.
Die Stille ist die Ursache dafür, daß die Bilder des Früher nicht so sehr
Wünsche erwecken als Trauer – eine ungeheure, fassungslose Schwermut. Sie
waren – aber sie kehren nicht wieder. Sie sind vorbei, sie sind eine andere Welt,
die für uns vorüber ist. Auf den Kasernenhöfen riefen sie ein rebellisches, wildes
Begehren hervor, da waren sie noch mit uns verbunden, wir gehörten zu ihnen
und sie zu uns, wenn wir auch getrennt waren. Sie stiegen auf bei den
Soldatenliedern, die wir sangen, wenn wir zwischen Morgenrot und schwarzen
Waldsilhouetten zum Exerzieren nach der Heide marschierten, sie waren eine
heftige Erinnerung, die in uns war und aus uns kam.
Hier in den Gräben aber ist sie uns verlorengegangen. Sie steigt nicht mehr
aus uns auf; – wir sind tot, und sie steht fern am Horizont, sie ist eine
Erscheinung, ein rätselhafter Widerschein, der uns heimsucht, den wir fürchten
und ohne Hoffnung lieben. Sie ist stark, und unser Begehren ist stark – aber sie
ist unerreichbar, und wir wissen es. Sie ist ebenso vergeblich wie die Erwartung,
General zu werden.
Und selbst wenn man sie uns wiedergäbe, diese Landschaft unserer Jugend,
wir würden wenig mehr mit ihr anzufangen wissen. Die zarten und geheimen
Kräfte, die von ihr zu uns gingen, können nicht wiedererstehen. Wir würden in
ihr sein und in ihr umgehen; wir würden uns erinnern und sie lieben und bewegt
sein von ihrem Anblick. Aber es wäre das gleiche, wie wenn wir nachdenklich
werden vor der Fotografie eines toten Kameraden; es sind seine Züge, es ist sein
Gesicht, und die Tage, die wir mit ihm zusammen waren, gewinnen ein
trügerisches Leben in unserer Erinnerung; aber er ist es nicht selbst.
Wir würden nicht mehr verbunden sein mit ihr, wie wir es waren. Nicht die
Erkenntnis ihrer Schönheit und ihrer Stimmung hat uns ja angezogen, sondern
das Gemeinsame, dieses Gleichfühlen einer Brüderschaft mit den Dingen und
Vorfällen unseres Seins, die uns abgrenzte und uns die Welt unserer Eltern
immer etwas unverständlich machte; – denn wir waren irgendwie immer zärtlich
an sie verloren und hingegeben, und das Kleinste mündete uns einmal immer
den Weg der Unendlichkeit. Vielleicht war es nur das Vorrecht unserer Jugend –
wir sahen noch keine Bezirke, und nirgendwo gaben wir ein Ende zu; wir hatten
die Erwartung des Blutes, die uns eins machte mit dem Verlauf unserer Tage.
Heute würden wir in der Landschaft unserer Jugend umhergehen wie
Reisende. Wir sind verbrannt von Tatsachen, wir kennen Unterschiede wie
Händler und Notwendigkeiten wie Schlächter. Wir sind nicht mehr
unbekümmert – wir sind fürchterlich gleichgültig. Wir würden da sein; aber
würden wir leben?
Wir sind verlassen wie Kinder und erfahren wie alte Leute, wir sind roh und
traurig und oberflächlich – ich glaube, wir sind verloren.
*
Meine Hände werden kalt, und meine Haut schauert; dabei ist es eine
warme Nacht. Nur der Nebel ist kühl, dieser unheimliche Nebel, der die Toten
vor uns beschleicht und ihnen das letzte, verkrochene Leben aussaugt. Morgen
werden sie bleich und grün sein und ihr Blut gestockt und schwarz.
Immer noch steigen die Leuchtschirme empor und werfen ihr
erbarmungsloses Licht über die versteinerte Landschaft, die voll Krater und
Lichtkälte ist wie ein Mond. Das Blut unter meiner Haut bringt Furcht und
Unruhe herauf in meine Gedanken. Sie werden schwach und zittern, sie wollen
Wärme und Leben. Sie können es nicht aushaken ohne Trost und Täuschung, sie
verwirren sich vor dem nackten Bilde der Verzweiflung.
Ich höre das Klappern von Kochgeschirren und habe sofort das heftige
Verlangen nach warmem Essen, es wird mir gut tun und mich beruhigen. Mit
Mühe zwinge ich mich, zu warten, bis ich abgelöst werde.
Dann gehe ich in den Unterstand und finde einen Becher mit Graupen vor.
Sie sind fett gekocht und schmecken gut, ich esse sie langsam. Aber ich bleibe
still, obschon die andern besser gelaunt sind, weil das Feuer eingeschlafen ist.
*
Die Tage gehen hin, und jede Stunde ist unbegreiflich und
selbstverständlich. Die Angriffe wechseln mit Gegenangriffen, und langsam
häufen sich auf dem Trichterfeld zwischen den Gräben die Toten. Die
Verwundeten, die nicht sehr weit weg liegen, können wir meistens holen.
Manche aber müssen lange liegen, und wir hören sie sterben.
Einen suchen wir vergeblich zwei Tage hindurch. Er muß auf dem Bauche
liegen und sich nicht mehr umdrehen können. Anders ist es nicht zu erklären,
daß wir ihn nicht finden; denn nur wenn man mit dem Munde dicht auf dem
Boden schreit, ist die Richtung so schwer festzustellen.
Er wird einen bösen Schuß haben, eine dieser schlimmen Verletzungen, die
nicht so stark sind, daß sie den Körper rasch derart schwächen, daß man halb
betäubt verdämmert, und auch nicht so leicht, daß man die Schmerzen mit der
Aussicht ertragen kann, wieder heil zu werden. Kat meint, er hätte entweder eine
Beckenzertrümmerung oder einen Wirbelsäulenschuß. Die Brust sei nicht
verletzt, sonst besäße er nicht so viel Kraft zum Schreien. Man müßte ihn bei
einer anderen Verletzung sich auch bewegen sehen.
Er wird allmählich heiser. Die Stimme ist so unglücklich im Klang, daß sie
überall herkommen könnte. In der ersten Nacht sind dreimal Leute von uns
draußen. Aber wenn sie glauben, die Richtung zu haben, und schon hinkriechen,
ist die Stimme beim nächstenmal, wenn sie horchen, wieder ganz anderswo.
Bis in die Dämmerung hinein suchen wir vergeblich.
Tagsüber wird das Gelände mit Gläsern durchforscht; nichts ist zu
entdecken. Am zweiten Tag wird der Mann leiser; man merkt, daß die Lippen
und der Mund vertrocknet sind.
Unser Kompanieführer hat dem, der ihn findet, Vorzugsurlaub und drei
Tage Zusatz versprochen. Das ist ein mächtiger Anreiz, aber wir würden auch
ohne das tun, was möglich ist; denn das Rufen ist furchtbar. Kat und Kropp
gehen sogar nachmittags noch einmal vor. Albert wird das Ohrläppchen dabei
abgeschossen. Es ist umsonst, sie haben ihn nicht bei sich.
Dabei ist deutlich zu verstehen, was er ruft. Zuerst hat er immer nur um
Hilfe geschrien – in der zweiten Nacht muß er etwas Fieber haben, er spricht mit
seiner Frau und seinen Kindern, wir können oft den Namen Elise heraushören.
Heute weint er nur noch. Abends erlischt die Stimme zu einem Krächzen. Aber
er stöhnt noch die ganze Nacht leise. Wir hören es so genau, weil der Wind auf
unsern Graben zusteht. Morgens, als wir schon glauben, er habe längst Ruhe,
dringt noch einmal ein gurgelndes Röcheln herüber – Die Tage sind heiß, und
die Toten liegen unbeerdigt. Wir können sie nicht alle holen, wir wissen nicht,
wohin wir mit ihnen sollen. Sie werden von den Granaten beerdigt. Manchen
treiben die Bäuche auf wie Ballons. Sie zischen, rülpsen und bewegen sich. Das
Gas rumort in ihnen. Der Himmel ist blau und ohne Wolken. Abends wird es
schwül, und die Hitze steigt aus der Erde. Wenn der Wind zu uns herüberweht,
bringt er den Blutdunst mit, der schwer und widerwärtig süßlich ist, diesen
Totenbrodem der Trichter, der aus Chloroform und Verwesung gemischt scheint
und uns Übelkeiten und Erbrechen verursacht.
*
Die Nächte werden ruhig, und die Jagd auf die kupfernen
Führungsringe der Granaten und die Seidenschirme der französischen
Leuchtkugeln geht los. Weshalb die Führungsringe so begehrt sind, weiß
eigentlich keiner recht. Die Sammler behaupten einfach, sie seien wertvoll. Es
gibt Leute, die so viel davon mitschleppen, daß sie krumm und schief darunter
gehen, wenn wir abrücken.
Haie gibt wenigstens einen Grund an; er will sie seiner Braut als
Strumpfbänderersatz schicken. Darüber bricht bei den Friesen natürlich
unbändige Heiterkeit aus; sie schlagen sich auf die Knie, das ist ein Witz,
Donnerwetter, der Haie, der hat es hinter den Ohren. Besonders Tjaden kann
sich gar nicht fassen; er hat den größten der Ringe in der Hand und steckt alle
Augenblicke sein Bein hindurch, um zu zeigen, wieviel da noch frei ist.»Haie,
Mensch, die muß ja Beine haben, Beine«- seine Gedanken klettern etwas höher –
,»und einen Hintern muß die dann ja haben, wie – wie ein Elefant.«
Er kann sich nicht genug tun.»Mit der möchte ich mal Schinkenkloppen
spielen, meine Fresse…«
Haie strahlt, weil seine Braut soviel Anerkennung findet, und äußert
selbstzufrieden und knapp:»Stramm isse!«
Die Seidenschirme sind praktischer zu verwerten. Drei oder vier ergeben
eine Bluse, je nach der Brustweite. Kropp und ich brauchen sie als
Taschentücher. Die andern schicken sie nach Hause. Wenn die Frauen sehen
könnten, mit wieviel Gefahr diese dünnen Lappen oft geholt werden, würden sie
einen schönen Schreck kriegen. Kat überrascht Tjaden, wie er von einem
Blindgänger in aller Seelenruhe die Ringe abzuklopfen versucht. Bei jedem
andern wäre das Ding explodiert, Tjaden hat wie stets Glück.
Einen ganzen Vormittag spielen zwei Schmetterlinge vor unserm Graben.
Es sind Zitronenfalter, ihre gelben Flügel haben rote Punkte. Was mag sie nur
hierher verschlagen haben; weit und breit ist keine Pflanze und keine Blume. Sie
ruhen sich auf den Zähnen eines Schädels aus. Ebenso sorglos wie sie sind die
Vögel, die sich längst an den Krieg gewöhnt haben. Jeden Morgen steigen
Lerchen zwischen der Front auf. Vor einem Jahr konnten wir sogar brütende
beobachten, die ihre Jungen auch hochbekamen.
Vor den Ratten haben wir Ruhe im Graben. Sie sind vorn – wir wissen,
wozu. Sie werden fett; wo wir eine sehen, knallen wir sie weg. Nachts hören wir
wieder das Rollen von drüben. Tagsüber haben wir nur das normale Feuer, so
daß wir die Gräben ausbessern können. Unterhaltung ist ebenfalls da, die Flieger
sorgen dafür. Täglich finden zahlreiche Kämpfe ihr Publikum.
Die Kampfflieger lassen wir uns gefallen, aber die Beobachtungsflugzeuge
hassen wir wie die Pest; denn sie holen uns das Artilleriefeuer herüber. Ein paar
Minuten nachdem sie erscheinen, funkt es von Schrapnells und Granaten.
Dadurch verlieren wir elf Leute an einem Tag, darunter fünf Sanitäter. Zwei
werden so zerschmettert, daß Tjaden meint, man könne sie mit dem Löffel von
der Grabenwand abkratzen und im Kochgeschirr beerdigen. Einem andern wird
der Unterleib mit den Beinen abgerissen. Er lehnt tot auf der Brust im Graben,
sein Gesicht ist zitronengelb, zwischen dem Vollbart glimmt noch die Zigarette.
Sie glimmt, bis sie auf den Lippen verzischt. Wir legen die Toten vorläufig in
einen großen Trichter. Es sind bis jetzt drei Lagen übereinander.
*
Plötzlich beginnt das Feuer nochmals zu trommeln. Bald sitzen wir wieder
in der gespannten Starre des untätigen Wartens.
Angriff, Gegenangriff, Stoß, Gegenstoß – das sind Worte, aber was
umschließen sie! Wir verlieren viele Leute, am meisten Rekruten. Auf unserem
Abschnitt wird wieder Ersatz eingeschoben. Es ist eines der neuen Regimenter,
fast lauter junge Leute der letzten ausgehobenen Jahrgänge. Sie haben kaum eine
Ausbildung, nur theoretisch haben sie etwas üben können, ehe sie ins Feld
rückten. Was eine Handgranate ist, wissen sie zwar, aber von Deckung haben sie
wenig Ahnung, vor allen Dingen haben sie keinen Blick dafür. Eine Bodenwelle
muß schon einen halben Meter hoch sein, ehe sie von ihnen gesehen wird.
Obschon wir notwendig Verstärkung brauchen, haben wir fast mehr Arbeit
mit den Rekruten, als daß sie uns nützen. Sie sind hilflos in diesem schweren
Angriffsgebiet und fallen wie die Fliegen. Der Stellungskampf von heute
erfordert Kenntnisse und Erfahrungen, man muß Verständnis für das Gelände
haben, man muß die Geschosse, ihre Geräusche und Wirkungen im Ohr haben,
man muß vorausbestimmen können, wo sie einbauen, wie sie streuen und wie
man sich schützt.
Dieser junge Ersatz weiß natürlich von alledem noch fast gar nichts. Er
wird aufgerieben, weil er kaum ein Schrapnell von einer Granate unterscheiden
kann, die Leute werden weggemäht, weil sie angstvoll auf das Heulen der
ungefährlichen großen, weit hinten einhauenden Kohlenkästen lauschen und das
pfeifende, leise Surren der flach zerspritzenden kleinen Biester überhören. Wie
die Schafe drängen sie sich zusammen, anstatt auseinanderzulaufen, und selbst
die Verwundeten werden noch wie Hasen von den Fliegern abgeknallt.
Die blassen Steckrübengesichter, die armselig gekrallten Hände, die
jammervolle Tapferkeit dieser armen Hunde, die trotzdem vorgehen und
angreifen, dieser braven, armen Hunde, die so verschüchtert sind, daß sie nicht
laut zu schreien wagen und mit zerrissenen Brüsten und Bäuchen und Armen
und Beinen leise nach ihrer Mutter wimmern und gleich aufhören, wenn man sie
ansieht!
Ihre toten, flaumigen, spitzen Gesichter haben die entsetzliche
Ausdruckslosigkeit gestorbener Kinder.
Es sitzt einem in der Kehle, wenn man sie ansieht, wie sie aufspringen und
laufen und fallen. Man möchte sie verprügeln, weil sie so dumm sind, und sie
auf die Arme nehmen und wegbringen von hier, wo sie nichts zu suchen haben.
Sie tragen ihre grauen Röcke und Hosen und Stiefel, aber den meisten ist die
Uniform zu weit, sie schlottert um die Glieder, die Schultern sind zu schmal, die
Körper sind zu gering, es gab keine Uniformen, die für dieses Kindermaß
eingerichtet waren.
Auf einen alten Mann fallen fünf bis zehn Rekruten. Ein überraschender
Gasangriff rafft viele weg. Sie sind nicht dazu gelangt, zu ahnen, was ihrer
wartete. Einen Unterstand voll finden wir mit blauen Köpfen und schwarzen
Lippen. In einem Trichter haben sie die Masken zu früh losgemacht; sie wußten
nicht, daß sich das Gas auf dem Grunde am längsten hält; als sie andere ohne
Maske oben sahen, rissen sie sie auch ab und schluckten noch genug, um sich
die Lungen zu verbrennen. Ihr Zustand ist hoffnungslos, sie würgen sich mit
Blutstürzen und Erstickungsanfällen zu Tode.
*
In einem Grabenstück sehe ich mich plötzlich Himmelstoß gegenüber. Wir
ducken uns in demselben Unterstand. Atemlos liegt alles beieinander und wartet
ab, bis der Vorstoß einsetzt.
Obschon ich sehr erregt bin, schießt mir beim Hinauslaufen doch noch der
Gedanke durch den Kopf: Ich sehe Himmelstoß nicht mehr. Rasch springe ich in
den Unterstand zurück und finde ihn, wie er in der Ecke liegt mit einem kleinen
Streifschuß und den Verwundeten simuliert. Sein Gesicht ist wie verprügelt. Er
hat einen Angstkoller, er ist ja auch noch neu hier. Aber es macht mich rasend,
daß der junge Ersatz draußen ist und er hier.
»Raus!«fauche ich.
Er rührt sich nicht, die Lippen zittern, der Schnurrbart bebt.
»Raus!«wiederhole ich.
Er zieht die Beine an, drückt sich an die Wand und bleckt die Zähne wie ein
Köter.
Ich fasse ihn am Arm und will ihn hochreißen. Er quäkt auf. Da gehen
meine Nerven durch. Ich habe ihn am Hals, schüttele ihn wie einen Sack, daß
der Kopf hin und her fliegt, und schreie ihm ins Gesicht:»Du Lump, willst du
‘raus – du Hund, du Schinder, du willst dich drücken?«Er verglast, ich
schleudere seinen Kopf gegen die Wand -»Du Vieh«- ich trete ihm in die Rippen
-»Du Schwein«- ich stoße ihn vorwärts mit dem Kopf voran hinaus.
Eine neue Welle von uns kommt gerade vorbei. Ein Leutnant ist dabei. Er
sieht uns und ruft:»Vorwärts, vorwärts, anschließen, anschließen -!«Und was
meine Prügel nicht vermocht haben, das wirkte dieses Wort. Himmelstoß hört
den Vorgesetzten, sieht sich erwachend um und schließt sich an.
Ich folge und sehe ihn springen. Er ist wieder der schneidige Himmelstoß
des Kasernenhofes, er hat sogar den Leutnant eingeholt und ist weit voraus. –
*
Trommelfeuer, Sperrfeuer, Gardinenfeuer, Minen, Gas, Tanks,
Maschinengewehre, Handgranaten – Worte, Worte, aber sie umfassen das
Grauen der Welt.
Unsere Gesichter sind verkrustet, unser Denken ist verwüstet, wir sind
todmüde; – wenn der Angriff kommt, müssen manche mit den Fäusten
geschlagen werden, damit sie erwachen und mitgehen; – die Augen sind
entzündet, die Hände zerrissen, die Knie bluten, die Ellbogen sind zerschlagen.
Vergehen Wochen – Monate – Jahre? Es sind nur Tage. – Wir sehen die
Zeit neben uns schwinden in den farblosen Gesichtern der Sterbenden, wir
löffeln Nahrung in uns hinein, wir laufen, wir werfen, wir schießen, wir töten,
wir liegen herum, wir sind schwach und stumpf, und nur das hält uns, daß noch
Schwächere, noch Stumpfere, noch Hilflosere da sind, die mit aufgerissenen
Augen uns ansehen als Götter, die manchmal dem Tode entrinnen können.
In den wenigen Stunden der Ruhe unterweisen wir sie.»Da, siehst du den
Wackeltopp? Das ist eine Mine, die kommt! Bleib liegen, sie geht drüben hin.
Wenn sie aber so geht, dann reiß aus! Man kann vor ihr weglaufen.«
Wir machen ihre Ohren scharf auf das heimtückische Surren der kleinen
Dinger, die man kaum vernimmt, sie sollen sie aus dem Krach herauskennen wie
Mückensummen; – wir bringen ihnen bei, daß sie gefährlicher sind als die
großen, die man lange vorher hört. Wir zeigen ihnen, wie man sich vor Fliegern
verbirgt, wie man den toten Mann macht, wenn man vom Angriff überrannt
wird, wie man Handgranaten abziehen muß, damit sie eine halbe Sekunde vor
dem Aufschlag explodieren; – wir lehren sie, vor Granaten mit
Aufschlagzündern blitzschnell in Trichter zu fallen, wir machen vor, wie man
mit einem Bündel Handgranaten einen Graben aufrollt, wir erklären den
Unterschied in der Zündungsdauer zwischen den gegnerischen Handgranaten
und unseren, wir machen sie auf den Ton der Gasgranaten aufmerksam und
zeigen ihnen die Kniffe, die sie vor dem Tode retten können. Sie hören zu, sie
sind folgsam – aber wenn es wieder losgeht, machen sie es in der Aufregung
meistens doch wieder falsch.
Haie Westhus wird mit abgerissenem Rücken fortgeschleppt; bei jedem
Atemzug pulst die Lunge durch die Wunde. Ich kann ihm noch die Hand
drücken; -»is alle, Paul«, stöhnt er und beißt sich vor Schmerz in die Arme.
Wir sehen Menschen leben, denen der Schädel fehlt; wir sehen Soldaten
laufen, denen beide Füße weggefetzt sind; sie stolpern auf den splitternden
Stümpfen bis zum nächsten Loch; ein Gefreiter kriecht zwei Kilometer weit auf
den Händen und schleppt die zerschmetterten Knie hinter sich her; ein anderer
geht zur Verbandsstelle, und über seine festhaltenden Hände quellen die Därme;
wir sehen Leute ohne Mund, ohne Unterkiefer, ohne Gesicht; wir finden jemand,
der mit den Zähnen zwei Stunden die Schlagader seines Armes klemmt, um
nicht zu verbluten, die Sonne geht auf, die Nacht kommt, die Granaten pfeifen,
das Leben ist zu Ende.
Doch das Stückchen zerwühlter Erde, in dem wir liegen, ist gehalten gegen
die Übermacht, nur wenige hundert Meter sind preisgegeben worden. Aber auf
jeden Meter kommt ein Toter.
*
Wir werden abgelöst. Die Räder rollen unter uns weg, wir stehen dumpf,
und wenn der Ruf:»Achtung – Draht!«kommt, gehen wir in die Kniebeuge. Es
war Sommer, als wir hier vorüberfuhren, die Bäume waren noch grün, jetzt
sehen sie schon herbstlich aus, und die Nacht ist grau und feucht. Die Wagen
halten, wir klettern hinunter, ein durcheinandergewürfelter Haufen, ein Rest von
vielen Namen. An den Seiten, dunkel, stehen Leute und rufen die Nummern von
Regimentern, von Kompanien aus. Und bei jedem Ruf sondert sich ein Häuflein
ab, ein karges, geringes Häuflein schmutziger, fahler Soldaten, ein furchtbar
kleines Häuflein und ein furchtbar kleiner Rest.
Nun ruft jemand die Nummer unserer Kompanie, es ist, man hört es, der
Kompanieführer, er ist also davongekommen, sein Arm liegt in der Binde. Wir
treten zu ihm hin, und ich erkenne Kat und Albert, wir stellen uns zusammen,
lehnen uns aneinander und sehen uns an.
Und noch einmal und noch einmal hören wir unsere Nummer rufen. Er
kann lange rufen, man hört ihn nicht in den Lazaretten und den Trichtern.
Noch einmal:»Zweite Kompanie hierher!«
Und dann leiser:»Niemand mehr zweite Kompanie?«Er schweigt und ist
etwas heiser, als er fragt:»Das sind alle?«und befiehlt:»Abzählen!«
Der Morgen ist grau, es war noch Sommer, als wir hinausgingen, und wir
waren hundertfünfzig Mann. Jetzt friert uns, es ist Herbst, die Blätter rascheln,
die Stimmen flattern müde auf:»Eins – zwei – drei – vier -«, und bei
zweiunddreißig schweigen sie. Und es schweigt lange, ehe die Stimme
fragt:»Noch jemand?«- und wartet und dann leise sagt:»In Gruppen -«, und doch
abbricht und nur vollenden kann:»Zweite Kompanie -«, mühselig:»Zweite
Kompanie – ohne Tritt marsch!«
Eine Reihe, eine kurze Reihe tappt in den Morgen hinaus. Zweiunddreißig
Mann.

Leave a Comment